Die drei Glorreichen Sieben
oder Das Märchen vom Hasen und Karl, dem Käfer
Rheinfahrt von Mainz nach Köln
Natalie Weber
- August: Mainz Mombach km 503,7 – WSV Geisenheim km 523,5
Der Rhein schreibt seine eigenen Gesetze. Besonders, wenn er fast trocken liegt. Dann wird er erst recht zum Mythos. Medien wissen zu berichten, dass der Fluss immer gefährlicher werde, je weniger Wasser drin sei. Spektakuläre Drohnenflüge zeigen unendlich viel Sand und Kies. Jeden Tag untertrumpft die Meldung vom niedrigsten Pegel seit Menschengedenken diejenige vom Vortag. Für Umwelt, Schifffahrt, Lieferketten eine Katastrophe. Keine Frage. Aber für Paddler?
Zweifel kommen auf. Soll man es unter diesen Umständen überhaupt wagen? Oder nur bestimmte Abschnitte? Oder besser ganz woanders? Wie verdammt eng würde es in der dramatisch geschrumpelten Fahrrinne werden, wenn gleichzeitig ein Frachter hoch und einer runter und daneben Felsen oder eine Kiesbank und dann noch die Paddler…? Wir stehen morgens zur Abfahrtszeit vor dem Bootshaus und diskutierten. Lange. Ausführlich. Und das ist gut so. Am Ende fällt eine einstimmige Entscheidung: Wir schauen uns das erst mal vor Ort an. Und sehen dann weiter, von Etappe zu Etappe.
Zu zehnt hätten wir losfahren sollen und nach Verabschiedung der Paddler, die über das lange Wochenende hinaus keinen Urlaub hatten, zu siebt in Köln einreiten. Die Glorreichen Sieben. Aber Werner kann erst gar nicht mit. Da warens nur noch sechs.
Mittags in Mainz-Mombach begrüßt uns Frank, der uns eine seiner Rekordsommer-Rekordgurken angedeihen lässt. Und Karl von den Freiburger Faltboot-Fahrern, der aber kein Faltboot fährt. „Hallo, ich bin Karl, der Käfer“, grinst er, „Kennste das Lied?“. Wir kennen es. Raffael und seine Freundin sind so freundlich, den leeren Bus mit Hänger nach Köln vorzusetzen. Das erspart uns den lästigen Logistik-Tag.
Frank teilt die Bedenken bezüglich des Flusses nicht. Der sei durch das Niedrigwasser zahm wie nie. Und Jörgs App zeigt, dass an den Engstellen rund um Binger Loch, Kaub und Loreley kaum noch Schiffe unterwegs sind. Also auf, sattelt die Boote, wir ziehen gen Westen.
Das Wasser ist wirklich sehr zahm und langsamer als sonst. Keine Wellen und – kein Gegenwind. Den hat man sonst auf diesem Flussabschnitt so sicher, dass man die Uhr danach stellen kann. Gern auch mit lästigem Regen dazu. Aber diesmal: Sengende Sonne und Rückenwind. Ein ganz neues Feeling. Und wie Gerd richtig bemerkt: Es ist zwar schön, ein bisschen geschoben zu werden, aber dafür fehlt der Fahrtwind. Den bräuchten wir im Moment dringender. „Der Sand ist heiß. Kein Schatten weit und breit. Die Cola kocht. Wir paddeln im eigenen Schweiß“. Frei nach Lindenberg. Unter unseren Hüten blühen die Tropen.
Der WSV Geisenheim ist die einzige Etappe auf der gesamten Tour, wo wir noch an einem Steg aussteigen können. Doch der Weg über die Holzplanken nach oben ist steil wie noch nie. Wir schaffen die bepackten Boote hinters Vereinshaus. Karl der Käfer ist schon da. Innen dürfen – von wegen das Virus – nur 5 Personen übernachten. Der Rest wirft seine Matten oder Zelte in die offene Ruderboothalle. Weil es laut Wetter-App im Laufe der Tour noch regnen soll, habe ich außer den Neopren-Schlappen und den Badelatschen nur die festen Treter eingepackt. Keine Ahnung, was mich da geritten hat. Bei dieser Hitze verweigern meine Füße jedenfalls schon bei ihrem bloßen Anblick den Gehorsam und erklären die Badelatschen zu meinen abendlichen Ausgehschuhen.
Zum Essen ist für uns auf der Terrasse des vereinseigenen Restaurants reserviert. Man hat uns vorgewarnt, dass wir ein bisschen warten müssten. Es werden geschlagene zwei Stunden. Für ausgehungerte Paddler eine Qual. Laut ist es auch; die Live-Band spielt zwar richtig gut Rock-Klassiker, würgt aber jedes Gespräch ab. Dafür ist das Essen, als es endlich kommt, hervorragend (mit einer Ausnahme). Kaum hat die Band Feierabend, geht im Park nebenan die House-Party ab. Und der Bewegungsmelder in der Bootshalle reagiert auf jeden Grashüpfer.
14. August: WSV Geisenheim km 523,5 – Germania Boppard km 570,0
Am nächsten Morgen sind wir früh und unausgeschlafen auf dem Fluss. Die „Etappe der Wahrheit“ steht an mit den Engstellen in Bingen, Kaub und an der Loreley. Um nicht in das legendäre Loch zu geraten, fahren wir in Bingen immer weit rechts, quasi direkt unterhalb der B 42, die auf einer hohen Betonmauer verläuft. Wir fahren auch diesmal soweit rechts wie möglich, aber die Wand ist in der Ferne nur noch zu erahnen; vornedran erhebt sich ein felsiges Mittelgebirge. Und das ist nur ein kleines bisschen übertrieben. Wellen: Null.
„Nehmt in Kaub den rechten Arm“, hat Werner uns eingebleut und wir halten uns dran. Denn die Fahrrinne führt links von der Kauber Wehrt entlang. Und tatsächlich tuckern gerade ein Frachter hoch und einer runter, als wir kommen. Die Bunen an der Insel liegen vollkommen trocken. Das wäre wirklich verdammt eng geworden. Auf der langen Rheinfahrt 2013 – bei damals ebenfalls historisch tiefem Wasserstand – hatte ich mich an dieser Stelle mit meinem Fotoapparat in den Kies gelegt, damit es auf dem Bild so aussieht, als könne man trockenen Fußes von der Kauber Werth zur Burg Pfalzgrafenstein mitten im Fluss gelangen. Diesmal hingegen ist es so: Beide Inseln sind zu einer einzigen verschmolzen.
Aussteigen können wir erst ganz an ihrem Ende, hinter der Burg, denn im rechten Arm strömt es ordentlich und das Ufer ist hoch. Komatöser Mittagsschlaf im Schatten der Bäume bei der Burg. Dann zurück durch die heiße Kieswüste zu den Booten.
An der Loreley kein Schiff weit und breit, keine Wellen, nix. Glattes warmes Wasser wie im Kinderbecken. Vor lauter Enttäuschung erzählt jeder von seiner bisher dramatischsten Passage. „Soooo hohe Wellen und Gegenwind, der einem den Regen ins Gesicht trieb…! – Keulerei von hier bis Boppard; die reinste Qual! – Als ich im Wellental war, konnte man mich nicht mehr sehen!“ Geschichten wie aus einer anderen Welt. Wenn man sich jetzt so umsieht auf der Brühe, kann man sie gar nicht glauben.
In Boppard schmeißen wir die Boote auf die großen „Leichenwagen“ und schaffen sie hoch zum Ruderclub Germania. Karl der Käfer ist schon da. Der SKC schätzt Juttas Gastfreundschaft schon seit vielen Jahren. Sie reserviert für uns einen Tisch in einem neuen Restaurant am Rheinufer. Diesmal dauert es nur knapp zwei Stunden. Zu wenig Personal, sagt der nette Kellner. Aber wieder schmeckt es sehr gut. Ich habe meine Dackelgarage unter der wunderschönen alten Vereinsbuche aufgeschlagen. Pit und Hannes legen sich unter freien Himmel und zählen die Perseiden. Karl der Käfer hat die späte Eingebung, acht quietschende Terrassenstühle zu einem Nachtlager zusammenzuschieben. Anschließend kruschelt er in aller Seelenruhe sein Tarp drüber. In dieser Nacht fallen ein paar Tropfen Regen
15. August: Germania Boppard km 570,0 – NWV Neuwied km 607,9
Am nächsten Morgen verlassen uns mehr Teilnehmer als vorgesehen. Jörg, Kerstin, Hannes und Pit treten die Heimreise an. Das ist sehr traurig, denn die Truppe war super.
Da warens nur noch fünf. Es tröpfelt ab und zu. Die reinste Erfrischung. Auch in Koblenz, wo es zwischen den Spundwänden immer gern heftig schaukelt, so gut keine Wellen. Die Pause ist vorgesehen am deutschen Eck, wie in den vergangenen Jahren. Es lockt eine Würstchenbude zu Füßen des ollen Kaisers. Aber mal wieder heißt es: „Letztes Jahr sind wir daaa oben ausgestiegen!“ Die Stelle liegt hoch über uns. Nicht mal dran zu denken, zumal neben uns ein großes Kreuzfahrtschiff rückwärts in die Mosel einbiegt. Also pausieren wir auf dem riesigen, müffelnden Kiesstrand der Insel Niederwerth. Zu normalen Zeiten ist er Flussgrund.
Bei Urmitz passieren wir die alte Eisenbahnbrücke, die mit ihren schwarzen Türmen immer bedrohlich aussieht. Sie wurde im Ersten Weltkrieg nach ähnlichen Plänen wie die Hindenburg-Brücke bei Rüdesheim und die Ludendorff-Brücke bei Remagen gebaut und nach dem deutschen Kronprinz Wilhelm benannt. Nachdem die berühmte „Brücke von Remagen“ am 7. März 1945 in amerikanische Hände geraten war, ließ die Wehrmacht die Brücke bei Urmitz zwei Tage später in die Luft jagen, obwohl sich noch hunderte der eigenen Soldaten darauf befanden, die zusammen mit Pferden und Fahrzeugen in den Fluss stürzten. Wie viele dabei ums Leben kamen, weiß man bis heute nicht. Von den zwei „Schwesterbrücken“ stehen in Remagen heute nur noch die vier schwarzen Flaktürme und in Rüdesheim ragen nur noch die Pfeiler aus dem Rhein. Lediglich diese hier, die Urmitzer Brücke, wurde nach dem Krieg wieder aufgebaut.
Bis Neuwied ist es jetzt nicht mehr weit. „Auf Höhe des ehemaligen AKW Mülheim-Kärlich den rechten Arm nehmen und dann direkt an der Brücke aussteigen“, hat Werner uns mit auf den Weg gegeben. Die elegante Hängebrücke der B256 mit ihren türkis-transparenten Lärmschutzwänden ist nicht zu übersehen. Hier türmt sich der Deich schon bei normalem Wasserstand besonders hoch über den Fluss. Jetzt ist es Bergsteigen mit beladenem Kajaks. Doch Reiner vom NVW steht schon am Ufer, als wir kommen, und hilft. Vorne hoch und hinten wieder runter; dann stehen wir vor dem tiefergelegten Wassersportverein mit seinen hübschen rot-weiß-gestreiften Holztoren. Karl der Käfer ist nicht da. Das vereinseigene Restaurant hat vor einer Woche erst neu eröffnet. Wir haben den Tisch für halb sechs reserviert, weil Stefan und Beate noch am Abend zurück nach Saarbrücken müssen. Das (wieder hervorragende!) Essen kommt diesmal in Rekordtempo. Dann verabschieden sich die beiden. Da warens nur noch drei.
Daniela, Gerd und ich sitzen noch lange mit Jürgen, dem 2. Vorsitzenden, und den super-netten Wirtsleuten Jessica und Markus auf der schönen Terrasse und plaudern bei diesem und jenem Kaltgetränk. Dabei erwischt mich eine Kriebelmücke in der Kniekehle. Aber das merke ich erst später.
Als wir ins Bett wollen, hat jemand unseren Schlafraum abgeschlossen. Unsere Schlüssel passen nicht. Gottseidank ist Jürgen noch nicht weit…
- August: NWV Neuwied km 607,9 – PSV Bonn km 659,0
Der Flatschen in meiner Kniekehle ist faustgroß, rot und heiß. Geschlafen habe ich so gut wie nicht und fühle mich wie durch den Fleischwolf gedreht. Ich überlege hinzuschmeißen. Doch schließlich klebe ich ein großes Pflaster drüber, das ich von Gerd geschnorrt habe, damit beim Paddeln nix über den Stich schubbert, und koche auf der Restaurantterrasse erst mal frischen Kaffee. Wir frühstücken in der Morgensonne. Danach sieht die Welt schon anders aus, auch wenn ich immer noch hundemüde bin.
Wir müssen Brot kaufen, deswegen starten wir später als sonst. Kaum sitzen Daniela und ich im Boot, bemerkt Gerd, dass er sowohl Spritzdecke als auch Schwimmweste im Bootshaus vergessen hat. Er versucht den Schlüssel, den er wenige Minuten zuvor in den Briefkasten geworfen hat, wieder raus zu angeln, aber das klappt nicht. Diesmal ist Reiner in der Nähe. So kommen wir wenige Minuten später tatsächlich los.
Der Tag zieht sich wie Kaugummi. Mit knapp 51 km haben wir ausgerechnet heute die längste Etappe vor der Brust. Der Fluss wird immer breiter und immer langsamer. Ich paddele gähnend vor mich hin. Erste Pause an der Rheinpromenade von Bad Hönningen auf einer schattigen Bank. Nach der Brücke von Remagen entschließen wir uns zu einer zweiten Pause in Unkel. Vielleicht ist Udo ja da.
Kaum haben wir angelegt, kommt uns jemand mit einem Bootswagen entgegen. Das ist doch… Karl der Käfer! Da steckt er also! Udo ist auch da. Große Freude, wir haben uns schon länger nicht mehr gesehen. Er hat den ganzen Tag geschuftet, um die ausgedörrte Steppe, die mal sein Rasen war, zu mähen und das Trockenfutter wegzuschaffen. Jetzt setzt er sich zu uns, zu einem Kaffeekränzchen mit Radler. Ich höre ihm immer gern zu. Er hat eine angenehme Stimme und eine ganz besondere Art zu erzählen. Aber heute… drohe ich einzunicken. Ich lasse mich, so wie ich bin, unter einen Baum fallen und bin sofort weg. Als ich mich eine halbe Stunde später wieder hochkämpfe, sehe ich aus wie frisch paniert.
Irgendwann müssen wir uns aber doch von Udo losreißen, denn bis zum PSV, der ganz am Ende von Bonn liegt, ist es noch ein Stückchen. Karl der Käfer bleibt lieber noch in Udos Obhut. Auf Höhe der Bonner Südbrücke ruft Gerd sicherheitshalber bei Gabi vom PSV an, um ihr zu sagen, dass es noch dauert. Irgendwann mag ich nicht mehr. Ankommen wäre jetzt prima. Meine Arme sind wohl derselben Ansicht und schmeißen den Turbo an.
Gabi empfängt uns am Fluss. Jetzt, nachdem der das letzte Gebirge hinter sich gelassen hat und breit geworden ist, liegen die Ausstiegsstellen nicht mehr hoch über, sondern weit weg vom Wasser. Hier sind es gefühlte 500m Buckelpiste und wir müssen die Boote direkt auspacken. Nix für die Bootswagen. Gabi hilft uns schleppen. Der PSV hat eine riesige Terrasse mit Rheinblick über der Bootshalle. Gerd und ich lassen uns dort nieder, Daniela drinnen im riesigen Saal. Wir genießen erst mal das eine oder andere Kaltgetränk. Und merken dann, dass wir uns verdammt sputen müssen, wenn wir an der Rheinfähre rund 1 km flussabwärts noch was zu essen zu bekommen wollen. Als wir dort sind, ist es fast zehn, aber nach ein bisschen gutem Zureden und dem Verweis auf unsere Tagesleistung verkündet der Chef seinem Koch, dass die Küche für uns noch auf hat. Es geht entsprechend zackig und wieder essen wir sehr gut.
17. August: PSV Bonn km 659,0 – Rhein Club Köln km 680,8
Der letzte Tag. Eigentlich nur noch ein halber. Wir packen zusammen. Ich bin schon unten am Fluss, während Daniela und Gerd einen letzten Kontrollrundgang durchs Haus machen. Eine Männerstimme ruft mehrfach „Guten Morgen!“. Mit den Augen suche ich das Ufer ab, werde aber nicht fündig. Plötzlich mault es hinter mir: „Das ist ja vielleicht ein Empfang…“ Ich drehe mich um zum Fluss und da sitzt in seinem Boot… Karl der Käfer! Er ist Frühaufsteher und heute Morgen schon von Unkel hergepaddelt. Zusammen treten wir die letzten Kilometer an.
Es ist bedeckt, ein bisschen diesig, angenehm frisch und die Anzeige in der Wetterapp wohl wörtlich zu verstehen: Dort kommen aus einer Wolke genau zwei Regentropfen. Von Köln sehen wir diesmal nicht viel, weil der Rheinkanuclub in der langen Linkskurve vor der Stadt in Rodenkirchen liegt. Die Sonne übernimmt wieder das Regiment und beleuchtet den Einritt der Drei Glorreichen Sieben, Special Guest: Karl der Käfer, dem würdigen Ereignis angemessen.
Geschafft. Der Rheinkanuclub hat eine riesige Zeltwiese, auf der wir uns niederlassen. Ich falle ins Zelt und betreibe erst mal Augenpflege. SKC-Bus und -Hänger warten bereits auf uns. Am Abend essen wir auf Karl des Käfers Empfehlung hin in einem Restaurant nicht weit vom Club. Die Umgebung hat was mediterranes. Rodenkirchen-sur-Mer. Der junge Pächter ist allein. Es könnte ein bisschen dauern, meint er…